Hanne Luhdo
Ich bin ein Realist mit Visionen
Aktualisiert: 4. Feb. 2019

„Vision ist die Kunst, Unsichtbares zu sehen“, soll Jonathan Swift einmal gesagt haben. So gesehen wagen Visionäre einen Blick in die Zukunft und sehen mehr als die Realisten, die immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden bleiben. Man braucht solche Visionen, um Ziele abzustecken und sich Mut zu machen, dass sich Dinge, Menschen oder Verhältnisse ändern können. Und um anderen Mut zu machen, sich aufzurappeln, um etwas für die Zukunft zu tun.
Eine gute Idee, einen Oberbürgermeister, Schulleiter und Stadtplaner beim Neujahrstreff zu fragen, wo sie ihre Stadtteile in 20 oder 25 Jahren sehen. Die Antworten waren ähnlich – voller Optimismus und Zuversicht, dem Tagesziel der Veranstaltung angepasst. Wer will schon ein Schreckensszenario auf so eine Frage hören? Aber reicht es, von blühenden Landschaften zu träumen und den Eindruck zu erwecken, dass sich alle Probleme in Luft auflösen werden und dass Programme wie „Soziale Stadt“ bald überflüssig werden?
Vor der Zukunft steht die Gegenwart, der Ausgangspunkt. Wenn ich das Plattenbaugebiet Mueßer Holz sehe, das mit seiner Lage zwischen Wald und Wasser viele Reize hat, hoffe ich, dass man mit blühenden Landschaften nicht Rapsfelder und Mohnwiesen meint, die auf Flächen wachsen, auf denen Plattenbauten platt gemacht wurden. Diese Vision hatten einige Schweriner Stadtvertreter noch vor einigen Jahren. Schulen und Kitas wurden geschlossen und abgerissen – nach einer sehr negativen Einwohnerprognose. Inzwischen sind sich fast alle einig, dass man die Wohnungen in diesem Stadtteil braucht – für Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen und vom Jobcenter feste Vorgaben bekommen, wieviel Lebensqualität sie sich leisten dürfen.
Inzwischen hat man nach unzähligen Studien sogar herausgefunden, dass es gar nicht gut ist, wenn sich die „Problemmenschen“ in den Quartieren konzentrieren – wegen der geringen Mieten und überhaupt. Das neueste Modewort ist „Segregation“. Das klingt netter als „ungleiche Verteilung von Bevölkerungsgruppen“ in der Stadt. Die Zeiten, dass der Arzt im Neubaugebiet neben der Arbeiterin aus dem Lederwarenwerk lebte, sind längst vorbei. Wer Arbeit und Geld hatte, zog in die Innenstadt, aufs Land oder in andere Regionen. Die, die weder das Eine noch das Andere hatten, auch kein Geld zum Umzug, blieben. Ausländer wurden in der Nachbarschaft angesiedelt – auch die meist ohne Arbeit und Geld.
Trotzdem wohnen viele gern dort, verbinden das Quartier mit Heimat, Familie und Freunden. Nun will man also eine Vermischung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen anstreben. Aber wie? Der Versuch, Eigenheimsiedlungen auf den Brachflächen zu bauen, verliefen bislang im Sande. Keiner wollte so nah am „Armenviertel“ bauen.
Doch ich will keinen Pessimismus verbreiten. Aber, um Visionen Wirklichkeit werden zu lassen, muss man viele kleine Schritte gehen. Dort, wo fast 60 Prozent der Kinder in Armut leben, die Eltern ihre Hoffnung längst aufgegeben haben und kaum zu mobilisieren sind, bedarf es enormer Anstrengungen möglichst vieler. Aber wie bekommt man Mehrheiten? 2019 ist ein Wahljahr. Wir wählen kommunale Vertretungen und das Europäische Parlament. Oder auch nicht. Gerade in diesem Stadtteil gibt es viele Wahlverweigerer. Wer wird sie bekehren? NPD und AfD haben hier in der Vergangenheit gute Ergebnisse erzielt. Protest, Überzeugung, Ratlosigkeit.
Abgehängte Bewohnergruppen werden nicht im kurzfristigen Wahlkampf gewonnen. Vertrauen aufbauen geht anders. Aber, wer Visionen hat, sollte nicht verzagen.
Ich denke: Bei allen Visionen sollte man die Gegenwart nicht aus den Augen verlieren, sonst stürzen die Träume ein wie ein Kartenhaus. Und: Man darf Probleme auch benennen. Man muss es sogar. Wer versucht, sich immer und überall rauszuhalten und neutral zu sein, wird am Ende keinen überzeugen. Es genügt nicht, eine Meinung zu haben. Man muss sie auch sagen, meine ich.